IMMER MEHR MENSCHEN WERDEN ZU SOZİALBETTLERN«
Gegen die Politik der türkischen Regierung hat sich ein Bündnis von elf Einzelgewerkschaften gebildet. Ein Gespräch mit Mustafa Türkel

Gegen die Politik der türkischen Regierung hat sich ein Bündnis von elf Einzelgewerkschaften gebildet. Ein Gespräch mit Mustafa Türkel
Mustafa Türkel ist Vorsitzender der türkischen Gewerkschaft für die Beschäftigten der Nahrungsmittelindustrie, Tekgida-Is
Die Gewerkschaft Tek-Gida-Is hat im Winter 2009/10 den Kampf der 12000 Beschäftigten des Tabakmonopols Tekel gegen ihre Entlassung und Abschiebung in den rechtlosen Leiharbeiterstatus angeführt. Was wurde erreicht?
In ihrem zweieinhalb Monate dauernden Kampf hatten die Tekel-Beschäftigten alle zentralen Fragen und Forderungen der gesamten Arbeiterklasse auf die Tagesordnung der Landespolitik gesetzt. Leider sind wir jetzt mit unserer Beschwerde gegen das Gesetz 4/C, das den Leiharbeiterstatus regelt, vor dem Verfassungsgericht gescheitert. Nun bereiten wir eine Klage beim Europäischen Gerichtshof vor.
Wie schätzen Sie die Politik des Ministerpräsidenten Recep Erdogan ein?
Die bisherige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der AKP-Regierung ist auf die Erwartungen und Forderungen des einheimischen und internationalen Großkapitals ausgerichtet. Sie hat vor allem eine Welle von Privatisierungen der öffentlichen Betriebe und Dienstleistungen ausgelöst, Outsourcing und Deregulierung ermöglicht. Die Folge waren unvorstellbare Profite der Unternehmer, während immer größere Teile der arbeitenden Bevölkerung weiter verarmten. Erdogan und seine Partei nutzen die fortschreitende Verelendung aus, um die Abhängigkeit der Bevölkerung von der Regierung voranzutreiben.
Was meinen Sie damit?
Laut Verfassung versteht sich die Türkei als Sozialstaat. Trotzdem haben Bedürftige keinen Rechtsanspruch auf staatliche Sozialleistungen. Statt dessen wurde unter der AKP ein Netz von Sozialfonds und Wohlfahrtsverbänden aufgebaut, die ohne öffentliche Kontrolle allein auf Basis des Wohlwollens dieser Partei funktionieren. Nur wenn sich die Bedürftigen als brave Untertanen erweisen, können sie auf mildtätige Gaben hoffen. Diese Leistungen sind zudem vom politischen Nutzen für die AKP abhängig, z.B. vor den Wahlen. Die Erdogan-Regierung hat das Ziel, immer mehr Menschen zu Sozialbettlern zu machen, die von der AKP abhängig sind. Erdogan strebt die Umwandlung der Türkei in ein Präsidialsystem nach US-Vorbild an. Letztlich wird die Türkei in ihren politischen Grundzügen zu einem immer totalitäreren System ausgebaut
Was setzt die Gewerkschaftsbewegung dagegen?
Wir versuchen, eine Alternative aufzubauen, deren Grundlage und Motor die Wahrnehmung der Interessen der Arbeiter ist. Dazu haben sich elf Einzelgewerkschaften zusammengeschlossen, die dem Gewerkschaftsdachverband Türk-Is angehören. Das Bündnis ist für alle sozialen Bewegungen offen, die eine wirklich demokratische Gesellschaft wollen. Es tritt für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik ein und konzentriert sich auf die Region Marmara-Ägäis-Thrakien. Hier schlägt nämlich das Herz der Arbeiterklasse; die kommenden Konflikte mit dem Kapital und der Regierung werden in erster Linie in diesem Dreieck ausgetragen.
Um unsere Ziele umsetzen zu können, müssen wir aber erst unsere Hausaufgaben machen. Erstens müssen die Gewerkschaften ihre Strukturen verändern und sich für Initiativen der Basis öffnen. Zweitens muß das Vertrauen der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften und ihren Kampfeswillen gewonnen werden. Drittens müssen wir auf allen Ebenen der gewerkschaftlichen Aktivitäten und Entscheidungen Transparenz schaffen und schließlich eine klare und auf den Kampf ausgerichtete Politik durchhalten.
Den Artikel finden Sie unter: http://www.jungewelt.de/2011/04-28/030.php
(c) Junge Welt 2011